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Mitten aus dem Leben. Ein Nachruf.

Freiheit, Lebensfreude, Abschied
FREI!

Vor drei Wochen starb meine Tante Resi. Einfach so, ohne Vorwarnung, mit einundneunzigeinhalb. Man kann in ihrem Fall ganz klar sagen: sie wurde mitten aus dem Leben gerissen.

 

Dabei ist es doch gerade in diesem hohen Alter jederzeit zu erwarten! Nicht so bei ihr. Sie hat das Leben geliebt, hat so gern gegessen, gern einen Schnaps am Abend getrunken, und wenn sie lachte, hat ihr ganzer Bauch gewackelt.

 

Sie starb nur drei Monate nach ihrem Mann, mit dem sie ein ganzes Leben verbracht hatte. Beide waren über ein Jahr in einem Pflegeheim untergebracht gewesen. Sie hat ihn bis zuletzt durch die Hölle der Demenz begleitet, monatelang hielt sie seine Hand, reichte ihm Essen an, und er konnte und konnte nicht loslassen. Dann, irgendwann, die Erlösung.

 

Resi fasste es sehr ruhig auf. Sie bezog ein Einzelzimmer, das erste Mal in ihrem langen Leben! Sie blühte förmlich auf. Das allererste Mal konnte sie selbst bestimmen, was sie tat – im Rahmen ihrer körperlichen Einschränkungen natürlich. Sie saß stundenlang in der Sonne im kleinen Garten des Heims, hatte einen eigenen Minibalkon, und sie hat sich nochmal so richtig sattgelebt.

 

Ihre Nachbarin, ebenfalls frisch verwitwet, sagte immer zu ihr: „Ich fühl mich so FREI!“, und meine Tante wiederholte – und fühlte es ganz erstaunt – „Ja, ich bin FREI!“ Dabei machte sie immer eine Bewegung: aus der Herzmitte heraus riss sie beide Arme auseinander: ganz weit geöffnete Flügel. FREI!

 

Sie hatte so viel zu geben in ihrer Art, das Leben zu nehmen. Wir haben sie alle so oft es ging besucht, oder haben mit ihr telefoniert. Sie hatte eine Weisheit des Alltags, die sie an uns weitergab. Alle haben wir behauptet, wir besuchten sie, damit sie nicht so allein sei, die Wahrheit aber ist: wir besuchten sie, weil es schön war, mit ihr zusammen zu sein. Immer brachte ich ihr irgendetwas selbst Gekochtes mit, denn sie aß für ihr Leben gern. Dann schloss sie genüßlich ihre Augen und sagte: „Aaaaber ist das gut!“. Und strahlte.

 

Dass sie furchtbare Schmerzen hatte, dass sie täglich Kompressionsstrümpfe trug, Medikamente ohne Ende einnehmen musste, erwähnte sie praktisch nie. Selten klagte sie über die Mühe des Altseins.

 

Sie starb als reiche Frau. Sie hatte Pläne, wollte am Montag noch shoppen gehen – in dem Heim gab es eine mobile Shopping-Veranstaltung, und sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben 450 Euro (nur für sich) zum Verprassen zur Verfügung. Sie plante schon die Weihnachtsfeier, war stolz, dass die Familie, ihre Familie, eingeladen war. Sie, die kinderlos geblieben war, war umgeben von ihren drei Nichten und natürlich von ihrer Schwester, die ihr noch geblieben war. Jeden Tag telefonierten die Beiden.

 

Und mit diesen Plänen, inmitten der Fülle ihres freien Lebens, kam am Samstag der Anruf. „Ihre Tante ist in der Notaufnahme, ich muss wissen, was ich veranlassen soll.“, sagte die junge Ärztin. Ich stand unter Schock, das kann doch nicht sein, ich wollte sie doch heute anrufen! Nach einer Stunde der zweite Anruf, es sei kritisch, und nach 20 Minuten: es ist vorbei. Eine Sturzgeburt ins Jenseits. Beim Frühstück bekam sie keine Luft, hatte eine Sauerstoffsättigung von 37. Drei Stunden später hielt die reizende Ärztin beim letzten Atemzug ihre Hand, mehr konnte sie nicht mehr tun. Tante Resis Seele spannte ihre Flügel aus, das Herz war zu schwach geworden. FREI.

 

Wir sitzen um sie herum, fünf Zurückgebliebene, und nehmen Abschied. Sie ist wunderschön! Jung sieht sie aus, und glücklich, und ich sehe: es war mühelos.

 

Sie hinterlässt eine Riesenlücke, eine trauernde Familie und einen zarten Zimtduft.

 

Eine Frau, die so viel im Leben überstanden hat, die Invasion der Russen im Versteck gut überlebt hat, die den mehrfachen Identitätswechsel Polen – Deutschland mit Würde getragen hat, die immer das Leben geliebt und dabei gestrahlt hat. Eine feine Dame, eine reizende alte Dame, das waren die Worte, die immer wieder fielen. Die Mitarbeiter im Heim sind fix und fertig, als wir dort das Zimmer ausräumen. Eine Schwester weint sogar. Die Nachbarin („FREI!“) erbt ihren Balkonstuhl, das ist nur richtig so.

 

Ich bin am Boden zerstört. In den ersten drei Tagen komme ich aus dem Schock gar nicht mehr raus, dann: der dritte Tag. Ich habe mal gelesen, dass die Seele drei Tage benötigt, um anzukommen. Wo eigentlich? Und ob das alles stimmt, wissen wir ja im Grunde genommen nicht. Ich weiss nur Eines: am dritten Tag gehe ich mit meinem Mann spazieren, und der Himmel reisst plötzlich auf. Eine Wolkenformation mit Licht erscheint am Himmel, wie wir sie beide noch nie gesehen haben: ein Delfin schwebt über einem Wasserfall aus Sonnenstrahlen. Wir haben beide Gänsehaut. Dann verändert sich das Bild: aus dem Delfin wird nach und nach ein Symbol der Geborgenheit: zwei Hände halten schützend eine Kugel aus Lichtstrahlen. Ich verstehe. Sie ist angekommen! Sie ist glücklich, ein Delfin, der frei ist. Und sie wird immer ihre schützende Hand über uns halten.

 

Mag es kindlich und naiv klingen, ich habe es in jenem Augenblick gespürt. Ich trete Resis Erbe an, das Vermächtnis, welches sie mir hinterlassen hat: liebe das Leben und sei frei.

 

Am Samstag wird sie nun neben ihrem Mann in Polen beigesetzt. Wir zünden hier in Deutschland eine Kerze an, mehr können wir nicht mehr tun.

 

 

 

Was bleibt, ist die Erinnerung.

 

 

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Kommentare: 5
  • #1

    Petra R. (Donnerstag, 17 Oktober 2024 12:10)

    Wow! Was für ein toller Mensch und was für ein wunderbar verfasster Nachruf.

    Ich drücke dich und ahne wie du dich fühlst. Es ist nie der richtige Zeitpunkt jemand geliebtes gehen zu lassen, aber so ganz ohne Abschied und so völlig unerwartet ist es doch sehr hart.

    Ganz liebe mitfühlende Grüße aus Köln.
    Petra ❤️�

  • #2

    Mo (Freitag, 18 Oktober 2024 11:22)

    Liebe Johanna,
    mein herzliches Beileid. Deine Tante Resi hat ihre Erdenreise beendet und ist im Himmel, im Licht angekommen, an dem Platz der Freude, den sie sich ausgesucht hat. So stelle ich mir das vor. Deine liebevolle Beschreibung und Darstellung deiner Tante Resi geht mir unter die Haut. Die Menschen dieser Generation haben viele Entbehrungen erlitten und viel Leid erfahren und trotzdem sich immer wieder aufgerafft, sich Kraft und Energie gegeben, meistens, das ist wahr, um anderen zu helfen, so wie deine Tante deinen Onkel in jeder Hinsicht gestützt hat. Sie haben sich nicht beklagt und am Ende, wie schön, hat sie Frieden und Freiheit gefunden trotz ihres "übervollen" Lebens. Der Schmerz ist groß, und wir merken erst dann, wie wichtig diese geliebten Menschen für uns sind, wenn sie unwiderruflich gegangen sind. Und hätten so gerne noch Zeit mit ihnen verbracht.... Du trägst deine Tante Resi nun im Herzen und da wird sie immer für dich erreichbar sein und das ist sehr tröstlich. Ganz liebe Grüße und Umarmung, Mo

  • #3

    Petra K. (Freitag, 18 Oktober 2024 16:47)

    Das hast Du ganz wunderbar geschrieben, liebe Johanna.
    Deine Tante Resi würde ihren Nachruf lieben.
    Fühl Dich gedrückt!

  • #4

    Tina und Janusz (Freitag, 18 Oktober 2024 20:34)

    Ein ganz wunderbarer Ausdruck deiner/eurer Gefühle... Wir haben sie nur selten gesehen, aber als eine ganz Liebe wahrgenommen.. Möge sie jetzt frei sein... Und ihr alle, fühlt euch gedrückt...

  • #5

    Simone Hackstein (Samstag, 19 Oktober 2024 11:25)

    Liebe Johanna, ich umarme Dich mit Tränen in den Augen..ich weiß es tut weh..jemand so wertvollen zu verlieren. Du hast einen so schönen Nachruf geschrieben..Deine Tante wird es lieben und so bleibt sie in schöner Erinnerung...